Dienstag, 30. Oktober 2012

Busfahren in Buenos Aires, Teil III

Bisher habe ich nur die notwendigen Vorbereitungen für das erfolgreiche colectivo-Fahren beschrieben. Doch wie ist das Fahren (Gefahrenwerden) im portensischen colectivo an sich?

Per colectivo lässt sich Buenos Aires vielleicht am Besten erkunden, auf jeden Fall aber am Bequemsten. Wer aufmerksam aus dem Fenster schaut oder aber die anderen Fahrgäste beobachtet, lernt viel über den Alltag, die Besonderheiten und die Menschen von Buenos Aires. Hier möchte ich einige Eindrücke von meinen regelmäßigen Fahrten mit der Linie 126 von San Telmo nach Caballito, zur Facultad de Filosofía y Letras, in Skizzenform festhalten:


Haltestelle Ecke Perú/ Carlos Calvo:
Der colectivo braust heran, ich hebe meinen Arm, der Bus hält, mit einem Zischen öffnen sich seine Türen. Ich steige ein, sage dem Busfahrer  "uno veinticinco" ( $1,25 Pesos) und bezahle mit meiner elektronischen SUBE-Karte.

Der Busfahrer:
Für einen kurzen Plausch ist immer Zeit - mit einem Kioskbesitzer, einem Bekannten am Straßenrand, dem Fahrer des Busses, der neben uns an der roten Ampel hält.

Die Passagiere:
Andere Fahrgäste werden grundsätzlich wenig beachtet, jeder starrt vor sich hin oder aus dem Fenster, es wird auf dem iPod Musik gehört oder das gesamte Register an Handyklingeltönen durchprobiert. Alten Leuten bietet man für gewöhnlich keinen Sitzplatz an, Eltern mit kleinen Kinder aber unbedingt.

Aussicht:
Alle Arten von Gebäuden und Häusern ziehen am Fenster vorbei: alte, heruntergekommene neben alten, renovierten (vielleicht knappe 100 Jahre alt?), Schulen, Krankenhäuser, Autowerkstätten, Barracken, Wohnblocks, Kiosks, Banken


Eine Kirche: Die Frau neben mir schlägt blitzschnell ein Kreuz, als sie der Kirchtürme gewahr wird.

Ein Eckcafé: Leute beim Frühstück, ein selbstvergessener Zeitungsleser am Fenster, ein Mann erzählt einer Frau etwas mit lebhaften Gesten. 


Ein Fenster in einer Erdgeschosswohnung: Hinter den halbzugezogenen Vorhängen sitzt Tag für Tag eine weiße Katze; manchmal beobachtet sie die Straße, gerade schläft sie.


Wände mit Graffiti, Evitas Konterfei, eine Madonna auf dem Ladenschild der Bäckerei Reina de Paz ("Königin des Friedens"), ein lebensgroßer Homer Simpson vor einem Spielzeugladen, ein Muskelmann aus Plastik vor einem Sportladen.


Der Sitz der politischen Gruppierung La Campora: das Präsidenten-Ehepaar Kirchner ist in Schwarz-Weiß an die Hausfassade gepinselt, aus einer Klappe in der Tür schaut ein aufgweckter Hundekopf mit Hängeohren und -backen.

Die Straßen: oft baumgesäumt - die grünen Blätter werden von Sonnenstrahlen erleuchtet. Autos parken dicht an dicht am Straßenrand. Eine tote Katze auf dem Asphalt in ihrem eigenen Blut. Polizisten in orangen Warnwesten und schwarzen Schirmkappen wachen an Straßenecken. Ein Hundeausführer mit zig Hunden an der Leine wartet an der Ampel.


Sonntag, 21. Oktober 2012

Politisches Buenos Aires

Politisches Engagement steht in Buenos Aires auf der Tagesordnung. Dass das studentische Leben an der UBA sehr politisch ist, habe ich bereits in meinem letzten Eintrag beschrieben (Studieren an der UBA). Aber auch wenn man aufmerksam durch die Straßen von Buenos Aires geht, stößt man stets auf Politisches: Plakate, Parolen und Graffitis entdeckt man überall und regelmäßig wird der Verkehr für eine Demonstration umgeleitet. An der Plaza de Mayo, wo sich auch der Regierungssitz, die Casa Rosada, befindet, werden die Absperrungen gar nicht mehr weggeräumt - schließlich müssen sie hier regelmäßig für Kundgebungen aufgebaut werden.


Politische Statements auf Mauern, Zebrastreifen und Hausfassaden:


 
 
"Mariano Ferreyra presente!" - Überall in der Stadt wird an den ermordeten jungen Aktivisten erinnert


Zu Deutsch etwa: "Mit der Demokratie scherzt man nicht - alle mit Christina [Kirchner], vereint und organisiert"

Auch Jahrzehnte nach dem Falklandkrieg sieht man in der Stadt zahlreiche Graffitis, Wandbilder oder Schmierereien, die fordern: "Engländer runter von den Falklandinseln" (die Falklandinseln heißen in Argentinien Malvinas)


Demo für Mariano Ferreyra:

Gestern fand eine Demonstration im Gedenken an Mariano Ferreyra statt, der vor genau zwei Jahren, am 20. Oktober 2010,  ermordet worden war (siehe ebenfalls Studieren an der UBA). Gewerkschaften, politische (linke) Gruppierungen, Studentenverbände usw. zogen vom Kongress die Avenida de Mayo entlang zur Plaza de Mayo, wo eine Abschlusskundgebung unter dem Motto "justicia y castigo" ("Gerechtigkeit und Strafe") stattfand. (Siehe z.B. den Bericht von La Voz)
Hier ein paar fotografische Eindrücke davon:


Die Demo formiert sich an der Plaza del Congreso und zieht die Avenida de Mayo entlang:


Überquerung der Avenida 9 de Julio, vorbei am Obelisken, einem der Wahrzeichen der Stadt:

Auch auf dem Zebrastreifen wird an Ferreyra erinnert


Demonstrieren ist hier keine Frage des Alters


 Schließlich erreichen die Demonstranten die Plaza de Mayo:

Samstag, 13. Oktober 2012

Studieren an der UBA - Die Facultad de Filosofía y Letras

Im Stadtteil Caballito, in der Straße Puan 480, befindet sich die Facultad de Filosofía y Letras (kurz: Filo), die philosophisch-literaturwissenschaftliche Fakultät der Universidad de Buenos Aires. Das Studieren an dieser berühmtesten und renommiertesten argentinischen Universität unterscheidet sich sehr stark von meinen bisherigen Studienerfahrungen in Deutschland und Schottland. Im Folgenden will ich ein paar Eindrücke des Studienalltags an der Filo festhalten. 

Der Ruf
Im Ausland wie unter Argentiniern gilt die UBA als eine sehr gute Uni, an der sich die besten Dozenten versammeln, doch zugleich ist sie als besonders chaotisch verschrien. Erzählt man einem porteño, man sei Austauschstudentin an der Filo in Puan, erntet man ein bedauerndes Kopfschütteln und die Aussage, dass es dort ja so chaotisch zugehe, die Verwaltung sei ein Graus. Und das Gebäude erst - das sei wirklich "muy feo - sehr hässlich"! Aber dann wird doch noch voller Anerkennung hinzugefügt: Die Lehre sei ja an der UBA wirklich exzellent, gute Kurse gäbe es da usw. Und so ist es auch - die Dozenten bieten Seminare und Vorlesungen zu vielfältigen und interessanten Themen an (so besuche ich Kurse über argentinische Literatur und Kulturindustrie im 20. Jahrhundert und über Kinder- und Jugendliteratur) und sind voller Engagement bei der Sache.

Das Gebäude
Stühlelager im Untergeschoss
Das Gebäude der Filo ist wohl tatsächlich das Schlimmste an der Sache: Ein zugiger, verschachtelter Kasten, in dem man im argentinischen Winter fast erfriert  - selbst wenn draußen angenehme Temperaturen herrschen und die Sonne scheint und man sich schon in alle verfügbaren Kleidungsstücke gehüllt hat. Heizkörper gibt es hier grundsätzlich nicht und einige der Schiebefenster lassen sich gar nicht mehr richtig schließen, so dass in manchen Räumen ein kontinuierlicher Luftzug herrscht. Auch Straßentauben flattern gelegentlich durch die Hörsäle.
Plakatsalat im Treppenhaus
Die Treppenhäuser und Gänge sind bis zum letzten Stück Mauer mit Plakaten behängt, die entweder auf kulturelle Veranstaltungen und Vorträge oder (das ist meistens der Fall) auf politische Projekte und Protestaktionen hinweisen. Im Eingangsbereich und an der Treppenaufgängen wird man zusätzlich mit Flyern bombardiert. Würde man alles annehmen, was einem im Laufe eines Uni-Tags von ungezählten Händen entgegengestreckt wird, käme man mit einer ganzen Tasche voller Papier zu Hause an.
Im Innenhof, wo die Studenten bei guter Witterung auf ein paar Steinbänken sitzen, rauchen, reden und Gitarre spielen, befindet sich auch das CEFyL (das Studierendenzentrum der Fakultät), in dessen Kopierläden man sich das Kursmaterial ausdrucken lässt.
Ein Stockwerk tiefer gibt es eine Art Mensa, die Essen und Getränke zu sehr günstigen Preisen anbietet. Aber man findet im gesamten Gebäude verteilt auch genügend Verkaufsstände (oder Leute, die mit einem Korb voll selbstgemachter Sandwiches in den Fluren stehen), um sich zwischen den Kursen mit Essen und Getränken zu versorgen.
Nur vormittags ist der Innenhof derart ausgestorben - die meisten Vorlesungen und Seminare finden erst nachmittags und abends statt
Fahrradständer... äh, -hänger im Innenhof

Studieren
Es gibt zwei Arten von Kursen an der Filo: Seminare, die üblicherweise vier Stunden dauern (wenn man Glück hat nur drei) und Materias, wobei sich letztere aus einer vierstündigen Vorlesung und einem zweistündigen Begleitseminar pro Woche zusammensetzen. Für die meisten Austauschstundeten ist es anfangs eine große Herausforderung, ganze vier Stunden in einer Veranstaltung auszuharren, die noch dazu in einer Fremdsprache stattfindet, und den Ausführungen der Dozenten zu lauschen. Die viertelstündige Pause, die zur Halbzeit eingelegt wird, sorgt jedes Mal für ein erleichtertes Aufatmen. Erstaunlicherweise scheinen die Dozenten nicht zu ermüden, auch wenn sie stundenlang reden müssen - sie sind einfach zu begeistert von ihrem Thema.


Politik
An der UBA geht es wesentlich politischer zu als an einer deutschen Uni. So gehen Studentengrüppchen zur Vorlesungszeit von Hörsaal zu Hörsaal, um ihre Kommilitonen (und die Dozenten) über Veranstaltungen, Kundgebungen, Demonstrationen und vieles mehr zu informieren. Manchmal nehmen diese Besuche aber stark überhand und wenn dann innerhalb einer viertel Stunde die dritte Gruppe die Vorlesung "ganz kurz" unterbrechen möchte, winkt der "Profe" schon mal genervt ab, mit dem Hinweis auf die Stoffmenge, die er heute noch durchbringen möchte. Meist aber werden diese kleinen "Kundgebungen" geduldet, denn sie gehören wie selbstverständlich zum UBA-Alltag.

Die Plakate und Flugblätter, die in der Filo unermüdlich verteilt und aufgehängt werden, habe ich oben bereits erwähnt. Auf vielen Plakaten, die an der Fakultät aushängen, ist Mariano Ferreyra (http://www.marianoferreyra.com.ar/) abgebildet, ein 23jähriger Student und Aktivist der Arbeiterpartei, der 2010 während einer Demonstration vermutlich von Mitgliedern der Eisenbahngewerkschaft  Ferrovaria ermordet wurde. Damals wie heute sorgt der Fall für großes Aufsehen und Empörung im ganzen Land, außerdem läuft momentan der Gerichtsprozess gegen die Verdächtigen. Auf den Plakaten in den Hörsälen und Fluren der Uni wird Gerechtigkeit für Mariano Ferreyra und die Bestrafung der Schuldigen gefordert. 
 "Facultad tomada - Fakultät besetzt"

Andere Plakate und Flugblätter informieren über UBA-interne Angelegenheiten, zum Beispiel die Proteste gegen viel zu geringe Stipendienbeträge ($125 Pesos = ca. 20 Euro sollen monatlich für Essen, Fahrtgeld und Kursmaterial reichen, was schier unmöglich ist) und die prekäre Lage der Universitätsdozenten. Deswegen wird auch schon mal gestreikt und das Fakultätsgebäude besetzt, sodass der Unterricht entweder ganz ausfällt oder im Freien stattfindet.

Momentan ist politische Stimmung an der Filo sogar noch aufgeheizter als sonst, da diese Woche die Wahlen des CEFyL (= hiesiger AStA) stattfinden. Konkret heißt das: Man bekommt noch mehr Flyer aufgedrängt, wird in Gespräche über Frauen- oder Arbeiterrechte verwickelt und die Vorlesungen werden gefühlt alle fünf Minuten unterbrochen, weil die verschiedenen Gruppen ihre Wahlprogramm vorstellen wollen (insgesamt scheint es allen so ziemlich um dieselben Punkte zu gehen: den Zustand und die Nutzung des Fakultätsgebäudes zu verbessern, höhere Stipendienbeträge, verstärkte Mitsprache der Studenten...)
Nur die Tafel bleibt frei: Hörsaalplakatierung während der Wahlwoche
 



Drumherum - Die Bar "Mac Pancho"
Immer wieder ein amüsantes Erlebnis, das noch den tristesten Uni-Tag versüßt: Kaffeeholen im "Mac Pancho", gleich gegenüber der Filo.

"Hola, hermosa, qué tal? - Hallo, meine Schöne, wie geht's?" schreit der glatzköpfige Barbesitzer hinterm Tresen hervor, sobald ich die Cafeteria "Mac Pancho" gegenüber der Filo betrete. Seine Gehilfen, fünf oder vielleicht gar sechs an der Zahl (man verliert hier leicht den Überblick), gruppieren sich im hinteren Teil der winzigen Bar um den Tresen herum. Einer eilt sogleich herbei, wenn ein Kunde den Laden betritt und nimmt diensteifrig die Bestellung entgegen.
"Un café con leche, por favor", bestelle ich. Einen Milchkaffee. "Un café con leche por la señorita!", brüllt der junge Gehilfe seinen Kollegen zu. Die setzen sogleich die Kaffeemaschine in Gang. Der Chef brüllt nach vorn zu mir: "Más café? - Mehr Kaffee (als Milch)?" Und da ich noch eine vierstündige Vorlesung vor mir habe, rufe ich zurück: "Si, más cafe!" Und er bedenkt mich mit einem Blick, der Stolz ausdrückt - als sei es eine bemerkenswerte Leistung koffeinbedürftig zu sein: "Bueno, mi hijita!" (etwa: so ist's recht, Mädchen).